«Foodwaste war vor 20 Jahren noch ein Fremdwort»

    Das Credo der Schweizer Tafel ist seit 20 Jahren «Essen verteilen – Armut lindern». Gerade die Pandemie hat nochmals deutlich gezeigt, wie viele Menschen auch in der Schweiz unter der Armutsgrenze leben. Organisationen wie die Schweizer Tafel sind daher in unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Der neue Geschäftsleiter Marc Ingold über schnelle unbürokratische Hilfe sowie über die Bekämpfung von Armut und Foodwaste.

    (Bilder: zVg) Engagiert: Marc Ingold ist seit dem 1. Oktober der neue Geschäftsleiter der Schweizer Tafel.

    Am 18. Dezember 2001 rollte der erste Wagen der Schweizer Tafel über die Strassen in Bern. Was sind die wichtigsten Meilensteine in der 20-jährigen Geschichte der Schweizer Tafel?
    Als wir vor 20 Jahren in der Region Bern gestartet sind, war das mit einem einzigen, gemieteten und noch ungekühlten Lieferwagen. Das Projekt nahm aber schnell an Fahrt auf. Unsere Gründerin, Yvonne Kurzmeyer, hatte mit ihrer Idee den Nerv der Zeit getroffen. Die mediale Aufmerksamkeit war vom ersten Tag an da. Nur ein Jahr später holten in der Region Bern 8 freiwillige Mitarbeiter jeden Morgen bei 12 Detailhandelsgeschäften Lebensmittel ab und verteilten diese an 65 soziale Organisationen. Nach und nach kamen weitere Regionen dazu. Ein weiterer Meilenstein war, dass es bereits im ersten Jahr gelang, die beiden grössten Detailhändler mit ins Boot zu holen und somit die Lebensmittelspenden zu sichern.

    Was hat die Schweizer Tafel in den letzten 20 Jahren erreicht?
    Wir konnten sicherlich viel dazu beitragen, die Bevölkerung auf die Themen Armut und Foodwaste zu sensibilisieren. Beim Start vor 20 Jahren war Armut noch ein Tabu, es gab auch keine Zahlen dazu. Heute weiss man es besser. Gerade die Corona-Pandemie hat nochmals deutlich vor Augen geführt, wie viele Menschen auch in der Schweiz unter der Armutsgrenze leben und nicht wissen, wie sie Ende Monat ihre Rechnungen bezahlen sollen – darunter auch viele Familien. Foodwaste war vor 20 Jahren noch ein Fremdwort. Heute ist es in aller Munde und zahlreiche Projekte wurden lanciert, die sich der Verschwendung von Lebensmitteln annehmen. Das ist toll, braucht aber sicherlich noch mehr Efforts und jedem Einzelnen, wenn man sieht, wie viel Essen immer noch im Müll landet.

    Die Schweizer Tafel haben im letzten Jahr 4134 Tonnen und in den ganzen 20 Jahren 54 244 183 Tonnen Lebensmittel verteilt. Woher stammen diese Lebensmittel und wer bekommt sie?
    Wir holen bei rund 450 Spendern die überschüssigen, aber noch einwandfreien Lebensmittel ab. Der Fokus liegt dabei auf den Filialen des Detailhandels. Aber auch Grossverteiler, Industrie und Lebensmittelproduzenten gehören zu unseren Spendern. Wir verteilen die Lebensmittel an rund 500 soziale Institutionen in der Deutsch- und Westschweiz zum Beispiel an Gassenküchen, Notunterkünfte, Obdachlosenheime, Frauenhäuser. Es sind einerseits Institutionen, welche die Lebensmittel verarbeiten und andererseits solche, die sie an Bedürftige abgeben.

    Die Schweizer Tafel verteilt jährlich über 4000 Tonnen Lebensmittel an rund 500 soziale Institutionen und lindert so täglich die Armut in der Schweiz.

    Was sind die grössten Herausforderungen bei der Logistik der Verteilung der Lebensmittel?
    Es ist ein tägliches Jonglieren zwischen Angebot und Nachfrage, da wir im Voraus nie wissen, wie viel Ware wir abholen können und auch nicht, welche Produkte es sind. Zudem benötigen wir grosse Lagerflächen und Kühlraum, um vermehrt auch gekühlte Lebensmittel abholen zu können. Dieses Jahr haben wir deshalb dringend nötige Investitionen in grössere Lagerräume und Kühlelemente getätigt. Wir stellen aber auch eine Veränderung bei den Filialabholungen fest. Die Warenmenge nimmt stetig ab. Der Detailhandel reduziert Foodwaste gezielt und erfolgreich. Gleichzeitig spüren wir seit Beginn der Pandemie eine stärkere Nachfrage nach Lebensmitteln. Da ist es für unsere Mitarbeitenden täglich eine Herausforderung, alles optimal zu verteilen.

    Armut war damals ein Tabuthema. Wie hat sich die Armut in den letzten 20 Jahren zahlenmässig, aber auch gesellschaftlich verändert?
    Man wusste damals, dass rund 10 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen waren, dachte aber, dies sei selbstverschuldet. Heute weiss man, dass es viele Gründe geben und jeden treffen kann. Seit einigen Jahren werden offizielle Armutsquoten publiziert. Diese zeigen, dass Armut über den Kreis der Sozialhilfebeziehenden hinausgeht. 735’000 Menschen lebten gemäss aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Statistik im Jahr 2019 unter der Armutsgrenze, darin sind die Corona-Auswirkungen noch nicht enthalten.

    Wird die Armut in der Schweiz aufgrund der Pandemie wieder steigen? Spüren Sie das bei Schweizer Tafel?
    Wir gehen davon aus, dass die Armut in der Schweiz als Folge von Corona zugenommen hat. Wir beobachten bei unseren täglichen Einsätzen, dass sich die Situation der bedürftigen Personen seit Frühjahr 2020 weiter verschärft hat. Auch wenn dazu noch keine verbindlichen Zahlen vorliegen, spüren wir deutlich: Es werden mehr Lebensmittel nachgefragt und wir bedienen auch mehr Abgabestellen als vor der Pandemie.

    Welche Faktoren erhöhen das Armutsrisiko?
    Wer keinen Zugang zu einer Arbeit hat, die ein selbsttragendes Einkommen ermöglicht, ist besonders gefährdet. Betroffen sind Menschen ohne Bildungsabschluss, aber auch Menschen, die Mühe haben, Betreuungspflichten und Erwerbsarbeit zusammenzubringen, wie zum Beispiel Alleinerziehende. Auch gesundheitliche Einschränkungen können ein Armutsrisiko darstellen. Generell sind ausländische Staatsangehörige eher gefährdet, besonders wenn sie keine unserer Landessprachen sprechen. Wird der Zugang zu Sozialleistungen verschärft, kann dies die Armutsbetroffenheit ebenfalls verschärfen.

    Ein grosses Thema ist Food Waste – 2,6 Millionen Tonnen einwandfreier Lebensmittel werden in der Schweiz jährlich weggeworfen. Wo findet Food Waste statt und wie erfolgreich ist die Sensibilisierung auf diese Problematik?
    Der Detailhandel achtet heute viel stärker auf die Vermeidung von Lebensmittelabfällen als früher und nimmt seine Verantwortung im Bereich Nachhaltigkeit sehr ernst. Der Hauptanteil von Foodwaste geschieht heute vor allem in privaten Haushalten, also bei uns Konsumentinnen und Konsumenten. Da werden noch viel zu viele Produkte weggeworfen, was nicht nur die Umwelt stark belastet, sondern auch das Haushaltsbudget. Wir stellen aber fest, dass sich gerade in den letzten Jahren immer mehr Projekte dieser Thematik annehmen und auch die Schulen schon einiges machen, um die Kinder zu sensibilisieren. Man müsste aber meiner Meinung nach gerade im Bereich Bildung noch mehr machen. Also noch stärker in die Lehrpläne aufnehmen, wie man einen Ressourcenschonenden Lebensstil pflegt.

    Welchen gesellschaftlichen Stellenwert messen Sie Organisation wie der Schweizer Tafel heute bei?
    Organisationen wie unsere sind für die Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Einerseits, weil die Versorgung mit Lebensmitteln neben dem Wohnen die unmittelbarste Form für die Linderung von Armut ist. Wir können schnell und unbürokratisch helfen, ohne lange Abklärungen und Anträge. Diese direkte Hilfe ist gerade in Krisenzeiten entscheidend und schliesst eine Lücke im System. Andererseits wirken wir der Lebensmittelverschwendung (Foodwaste) entgegen, eine zweite grosse gesellschaftliche Herausforderung unserer Zeit.

    Seit dem 1. Oktober 2021 sind Sie neuer Geschäftsleiter der Schweizer Tafel. Wie erleben Sie Ihren Job und was erfüllt Sie dabei?
    Ich bin nach wie vor voll in meiner Einführungszeit. Fast täglich erlebe ich neue Sachen. Der Job ist äusserst vielfältig und erfüllend. Bei meiner «Tour de Suisse» lerne ich neue Leute kennen, die alle für die gleiche Sache einstehen und ihr Bestes geben. Jeder einzelne Mitarbeitende, von Kerzers über St. Gallen, Zürich, Basel, Luzern, Bern bis nach Lausanne macht täglich einen super Job. Das freut mich ungemein.

    Wo setzen Sie Prioritäten bei Ihrer Arbeit?
    Meine Priorität ist zurzeit, mit möglichst vielen Leuten zu sprechen, eifrig zu beobachten, viele Fragen zu stellen und mir eine Übersicht zu verschaffen. Mein Credo ist: «Keine Revolution, sondern Evolution». Künftig versuchen wir, gute Dinge noch besser zu machen. Daran müssen wir gemeinsam täglich arbeiten. Der Gedanke «Gut auch in kleinen Dingen» soll uns dabei täglich begleiten.

    Wie wird das 20-Jahr-Jubiläum gefeiert?
    Wir hatten Anfang September eine kleine Jubiläumsfeier mit den Mitarbeitenden und Vertretern des Stiftungsrates und des Gönnervereins. Wir waren zu Gast bei einem unserer Abnehmer, dem Jugenddorf Knutwil. Mit den Lebensmitteln, die wir dort abgeben, wurde ein wunderbares Menu für uns gekocht. Ansonsten haben wir das Jubiläum kommunikativ genutzt. Zum Beispiel haben wir uns mit einem neuen Logo und einer neuen Website ein modernes Kleid verpasst und auf den sozialen Netzwerken unsere Partner und Lebensmittelabnehmer über unsere Arbeit zu Wort kommen lassen. Das ist wichtig, damit wir noch mehr Leute erreichen und aufzeigen können, wie wichtig unsere Arbeit zur Linderung der Armut und Rettung von Lebensmitteln ist und bleibt.

    Was sind in der aktuellen Situation die grossen Herausforderungen?
    Bereits seit 20 Jahren sammeln wir überschüssige Lebensmittel und verteilen sie an armutsbetroffene Menschen. Nun drängen neue Player auf den Markt, die monetär gesteuert sind. Diese sind für die Lebensmittelspender interessant. Erstens bringen sie Frequenzen in die Läden, und zweitens gibt es für die Ware, welche bald abläuft, noch einen kleinen Betrag. Die meisten Konsumenten glauben, dass eine «Non Profit Organisation» dahintersteckt – was aber nicht so ist. Zudem werden die gekauften Waren, die als «Überraschungspäckli» deklariert werden, nur noch zum Teil verzehrt. Daraus ergibt sich wiederum Foodwaste und wir bekommen weniger Ware, die wir direkt Bedürftigen weitergeben könnten. Wir müssen neue Wege suchen und Partnerschaften knüpfen, um auch künftig sicherzustellen, dass wir unsere Vision «Essen verteilen – Armut lindern» täglich erfüllen können.

    Was sind die Pläne und Projekten in nächster Zeit für die Schweizer Tafel?
    Aus meiner heutigen Sicht gibt es künftig zwei grosse Herausforderungen: Bekämpfung der versteckten Altersarmut sowie die Bekämpfung von Foodwaste im privaten Bereich. Wir werden diese zwei Themen im 2022 erörtern und uns eingehend Gedanken machen, wo und wie wir in diesen Bereichen unterstützen können.

    Interview: Corinne Remund

    www.schweizertafel.ch

    Vorheriger ArtikelWeiterhin viel Action und Spass am Eiszauber Bassersdorf
    Nächster ArtikelDas neue Daheim bietet viel Geborgenheit