Bis in die 1970er-Jahre waren in der Schweiz hunderttausende Kinder, Jugendliche und Erwachsene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen. Ihre Armut oder ihre von bürgerlichen Normen abweichende Lebensweise galt als Grund für massive staatliche Eingriffe und repressive Massnahmen. Die Wanderausstellung «Vom Glück vergessen. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen in Bern und der Schweiz» stellt fünf Betroffene und ihre Schicksale ins Zentrum.

Administrative Versorgung ohne Gerichtsurteil in Arbeits- oder Strafanstalten, Fremdplatzierungen als Heim- und Verdingkind, Zwangsadoptionen, -abtreibungen und -sterilisationen sowie Medikamentenversuche mit unerprobten Substanzen oder Zwangsmedikationen sind Beispiele sogenannter fürsorgerischer Zwangsmassnahmen: Ein Bündel von staatlichen Massnahmen, unter denen hunderttausende Betroffene von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre litten. Diese Eingriffe sollten der Armutsbekämpfung sowie der Herstellung sozialer Ordnung dienen. Betroffen waren vor allem Menschen mit geringem Einkommen, oft auch alleinstehende Mütter und ihre Kinder.
Überdurchschnittlich viele Leidtragende im Kanton Bern
In Bern waren viele Menschen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen: Als Verdingkinderkanton brachte Bern die meisten Kinder in Familienpflege. Betroffene können seit 2017 beim Bund einen Solidaritätsbeitrag beantragen. Bis 2024 wurden knapp 11’000 Gesuche gutgeheissen, ein Fünftel davon von Personen aus Bern, was im Verhältnis zur Bevölkerung hoch ist. Wie viele Menschen in Bern betroffen waren, ist nicht bekannt.
Aufarbeitung und Anerkennung
Seit einigen Jahren erheben Betroffene verstärkt ihre Stimme. Dass ihnen Unrecht geschah, ist heute offiziell anerkannt. In mehreren Kantonen und vom Bund gibt es Initiativen, das Unrecht ins kollektive Gedächtnis zu holen. «Mit der Ausstellung zeigen wir, was es für einen Einzelnen bedeutete, betroffen zu sein», erklärt die Kuratorin Tanja Rietmann. Zum ersten Mal widmet das Bernische Historische Museum diesem Thema eine Ausstellung. «Als Museum tragen wir dazu bei, dass das Unrecht nicht vergessen wird», sagt Aline Minder, Leiterin Programm.
Fünf-Geschichten stehen für Hunderttausende
Begehbare Raumbilder lassen die Besucher in die Geschichten von fünf Protagonist/innen eintauchen, die exemplarisch für Hunderttausende andere stehen. Archivdokumente und Hörspiele machen die bewegenden Schicksale erlebbar. Eine Geschichte ist die von Heinz Kräuchi, der im Knabenheim «Auf der Grube» in Köniz platziert wurde. «Durch die Ausstellung fühle ich mich wahrgenommen. Ich erzähle meine Geschichte für all jene, die das nicht können», sagt er. Die Ausstellung wirft auch gesellschaftliche Fragen auf: Wen bitten wir morgen um Entschuldigung? Wie viel verdanken wir unserer Herkunft?
Abendreihe «Gegen das Vergessen» im Frühling
Die Veranstaltungsreihe «Ein Abend im Museum – Gegen das Vergessen» (30. April bis 21. Mai 2025) thematisiert die Ausstellung. In vier Veranstaltungen geht es um die Erfahrungen der Betroffenen, den historischen Kontext und die Frage, wann der Staat ins Privatleben eingreifen darf. Die Podien werden von Kathrin Winzenried (SRF) moderiert, ergänzt durch öffentliche Führungen.
pd