Neutralität auf dem Prüfstand


    Blickwinkel


    Am Nachmittag des 15. Juni 2023 sprach der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, in einer Videoansprache vor der Schweizer Bundesversammlung. Dieses Privileg wurde bis anhin nur sehr wenigen Persönlichkeiten zuteil, da Gastauftritte im Parlament problematisch sind. Zum einen besteht die grundsätzliche staatsrechtliche Befürchtung vor äusserer Einflussnahme, zum anderen will man keine Präzedenzfälle schaffen und nicht einem ausländischen Staatsgast eine Ehre zuteilwerden lassen, die man einem anderen verweigern würde. Das wäre gelebte Neutralität.

    Schon Niklaus von Flüe (1417-1487) definierte folgende neutralitätspolitische Maxime: «Mischt Euch nicht in fremde Händel!»

    Es stellt niemand in Abrede, dass der Krieg in der Ukraine abscheulich ist und sowohl bei der Zivilbevölkerung als auch bei den Militärs unvorstellbares Leid erzeugt. Aber rechtfertigt das, dass die Schweiz ihre über 200 Jahre alte Neutralität über Bord wirft? Ist damit jemandem geholfen? Es gibt genug nicht neutrale Staaten. Wäre es nicht viel nützlicher, wenn sich die Schweiz bei beiden Parteien für die Aufnahme von Friedensverhandlungen einsetzen würde? Wenn sie dies gerade wegen ihrer Neutralität auch glaubwürdig hätte tun können? Neutralität ist nicht so, wie das von unseren Politikern und Politikerinnen interpretiert wird, sondern so, wie es von der Staatenwelt wahrgenommen wird. Am 28. Februar 2022 schrieb sogar die Washington Post, dass die Schweiz mit ihrer langen Tradition neutral zu sein, gebrochen und die Russland Sanktionen der EU übernommen habe.

    Nun ist es aber Wahljahr und die Medien drängen zur Unterstützung der Ukraine. Was soll die Polemik um Neutralität, wenn ein Land von einem anderen überfallen wird? Neutralität hin oder her, die Schweiz soll die Ukraine mit allen Mitteln unterstützen, wenn nötig sogar mit Waffen- und/oder Munitionslieferungen. Und 5 Milliarden Schweizerfranken in die Ukraine zu schicken ist viel zu wenig – auch wenn es sich um ein hochkorruptes Land handelt. Wo bleiben da die Schweizerischen Grundwerte? Man erhält das Gefühl, dass fast jede Partei und fast jeder eidgenössische Parlamentarier und jede eidgenössische Parlamentarierin eine eigene Interpretation von Neutralität zurechtbiegt. Das Ziel ist, den Medien zu gefallen. Denn nur eine positive Berichterstattung bringt Wählerstimmen!

    Wir haben rechtsstaatliche Prozesse und das oberste Organ ist das Volk und nicht einzelne Parteien oder das Parlament. Es wäre zum langfristigen Wohle der Schweiz, wenn sich die Wähler und Wählerinnen nicht blenden liessen und sich bei den kommenden Wahlen für Bewährtes entscheiden würden. Es sind Köpfe gefragt, die weitsichtig denken und sich genau deshalb für unsere Grundwerte und eine neutrale Schweiz einsetzen.

    Giuseppe Nica,
    Verleger


    Ihre Meinung zu diesem Thema interessiert uns. Schreiben Sie per Mail an:
    nica@schweizerkombi.ch

    Vorheriger ArtikelAm Puls der Zeit
    Nächster ArtikelDank Know-how KMU weiterführen